Die Allgäuer Israel-Kennerin Karin Lucke-Huss über den Nahost Konflikt

Zwei Völker und ein Land –

Als am 7. Oktober die schrecklichen Bilder des Überfalls der palästinensischen Hamas auf grenznahe Gebiete unweit des Gaza-Streifens um die Welt gingen, konnte sich die Wiggensbacherin Karin Lucke-Huss (64) ein wohl genaueres Bild über mögliche Hintergründe der Anschläge machen, als die meisten ihrer Mitmenschen.

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Seit 40 Jahren bereist Karin Lucke-Huss Israel und Palästina. Sie sprach mit TRENDYone über den Nahost-Konflikt.Bild: Karin Lucke-Huss
Sie ist von Beruf Reiseleiterin und Buchautorin. Für die renommierten Studiosus Reisen in München leitet und konzipiert Lucke-Huss seit fast 40 Jahren Reisen nach Israel und Palästina. Über hundert Mal war die studierte Geographin vor Ort, um mit ihren Reiseteilnehmern u.a. die heiligen Stätten der drei monotheistischen Religionen zu besichtigen. Außerdem dürfte Karin Lucke-Huss manchem Kemptener Bürger und Besucher der Stadt auch durch ein Angebot des Kulturamtes Kempten bekannt sein. Unter dessen Regie lädt sie seit vergangenem Herbst Menschen zu einer ganz besonderen Stadtführung durch Kempten ein, bei der die wichtigsten Erinnerungsorte an den Nationalsozialismus in der Stadt besucht werden. Mit dem Kreisboten sprach Karin Lucke-Huss über die aktuelle Lage in Israel und ihre Erfahrungen mit einem in vielfacher Hinsicht gespaltenen Land.

TRENDYone: Was ist der Hintergrund ihrer Hingezogenheit/Verbundenheit zu Israel und Palästina?

Schon in der Schule habe ich mich intensiv mit dem Thema „Antisemitismus“ beschäftigt, in meinem Geographiestudium absolvierte ich Studienaufenthalte zur Recherche für meine Magisterarbeit in Israel. Danach begann ich als Reiseleiterin meinen Gästen die Errungenschaften des jungen Staates zu zeigen, ihnen aber auch die Hintergründe des Nahostkonfliktes und die Situation der arabischen Bevölkerung zu erklären.

TRENDYone: Wann unternahmen Sie ihre erste Reise ins „Heilige Land"?

1981

TRENDYone: Wie begründen Juden ihren Anspruch auf das Land und was sagen Sie Menschen, die das Existenzsrecht Israels in Frage stellen?

Einige Juden haben Ende des 19. Jh. erkannt, dass sie auch in liberalen Staaten, in denen sie alle Bürgerrechte haben, niemals unverfolgt würden leben können, daher gründeten sie die zionistische Bewegung. Diese jüdische Nationalbewegung forderte eine „nationale Heimstätte für das jüdische Volk“. Da Uganda eher unrealistisch für das Projekt erschien, erinnerte man sich an das alte biblische Land am Mittelmeer, zu dieser Zeit als Palästina mit überwiegend arabischer Bevölkerung ein Teil des Osmanischen Reiches. Der 1948 gegründete Staat Israel erhielt schließlich seine völkerrechtliche Legitimation durch den Teilungsplan der Vereinten Nationen, der am 29.11.1947 von einer Zweidrittel-Mehrheit der Vollversammlung verabschiedet worden war und einen jüdischen neben einem arabischen Staat in Palästina vorsah.

TRENDYone: Welche „Webfehler" würden Sie im Staatskonstrukt von Israel ausmachen? Was ist Israels Dilemma?

Ich würde nicht von „Webfehlern“ sprechen. Vielleicht könnte man die Tatsache, dass Israel sich als einen Jüdischen Staat definiert als sein Dilemma betrachten. Immerhin leben neben der jüdischen Mehrheit auch noch 20 % Araber im Staat. Außerdem hält Israel seit dem Sechs-Tage-Krieg 1967 Gebiete wie das Westjordanland, den Gazastreifen, Ost-Jerusalem und die Golanhöhen besetzt. Westjordanland, Ost-Jerusalem und Gaza werden nicht mehr von Nachbarstaaten beansprucht (vor 1967 waren sie jordanisch und ägyptisch besetzt), sondern sollen nach internationalem Verständnis das zukünftige Staatsgebiet eines Palästinenserstaates werden. Leider gibt es dazu in der jüdisch-israelischen Gesellschaft keinen Konsens, die fundamentalistische und rassistische Regierung, die seit Dezember 2022 die Geschicke des Landes bestimmt, fördert massiv die jüdischen Siedler im Westjordanland, deren Präsenz und Verhalten die Gründung eines palästinensischen Staates unmöglich machen.

TRENDYone: Warum steht Israel wirtschaftlich so viel besser da als das zweigeteilte Palästina? Würde eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage Palästinas die Lage entspannen?

Die Wirtschaft in den Palästinensergebieten Westjordanland und Gazastreifen kann sich nicht entwickeln. Der Gazastreifen ist durch Israel und Ägypten abgeriegelt, das Westjordanland steht weiterhin unter israelischer Besatzung. Die beiden Gebiete werden von unterschiedlichen Gruppen beherrscht, die untereinander verfeindet sind. Im Gazastreifen ist es die Hamas, im Westjordanland die Fatah mit der palästinensischen Autonomiebehörde unter Palästinenserpräsident Abbas. Die Unsummen von Hilfsgeldern aus der westlichen und der arabischen Welt werden im Gazastreifen nur zum Teil für den Ausbau der friedlichen Infrastruktur verwendet, dafür umso mehr für die Anlage eines Tunnelsystems und die militärische Aufrüstung. Im Westjordanland wandern hohe Summen dieser Hilfsgelder wegen der Korruption in falsche Taschen. Eine Entspannung gäbe es, wenn die politische Lage (Blockade, Besatzung, verfeindete Gruppen, militärische Bedrohung Israels durch die Hamas) und die Korruption sich ändern würden.

TRENDYone: Von welcher Seite droht Israel aktuell die größte Gefahr?

Von der Hamas (Gaza) und von der Hisbollah (Südlibanon) mit dem Iran im Hintergrund.

TRENDYone: Ist die 2-Staaten-Lösung ein nie einlösbares Versprechen?

Die 2-Staaten-Lösung war mit dem Oslo-Abkommen 1993 zwischen Israel und den Palästinensern eine für beide Seiten realistische Option. Heute ist das nicht mehr so, es leben inzwischen über 400.000 jüdische Siedler im Westjordanland, etwa 200.000 in Ost-Jerusalem. Die derzeitige nationalistische Regierung Israels würde einer 2-Staaten-Lösung niemals zustimmen. Auch unter den Palästinensern sind viele, v.a. Anhänger der Hamas, gegen eine 2-Staaten-Lösung.

TRENDYone: Sie telefonieren viel mit ihren israelischen und palästinensischen Freunden vor Ort. Was erzählen die Ihnen aktuell?

Die Israelis sind traumatisiert durch den Terrorangriff der Hamas am 7.10. mit etwa 1200 Toten. Sie begreifen nicht, warum das Militär, der Geheimdienst und die Politiker davon nichts wussten. Ich habe Freunde, deren Kinder nun vom Militär eingezogen wurden und im Gazastreifen und an der Nordgrenze zum Libanon im Einsatz sein. Manche meiner Freunde arbeiten jetzt als Freiwillige auf den Feldern der Kibbuzim an der Grenze zu Gaza, wo viele Bewohner ermordet wurden und das Gemüse geerntet werden muss. Sie rücken zusammen, nehmen Menschen aus den evakuierten Orten nahe dem Gazastreifen und entlang der libanesischen Grenze auf. Mindestens einmal täglich müssen meine Freunde in Tel Aviv und Haifa wegen des Raketenalarms einen Bunker aufsuchen. Meine palästinensischen Freunde sitzen ebenso wie meine israelischen Freunde viele Stunden des Tages vor Fernseher oder Smartphone, schauen sich den schrecklichen Krieg im Wohnzimmer an und können alle nicht mehr schlafen. Meine Freundin in Bethlehem erzählte mir, dass die palästinensischen Städte im Westjordanland (A-Gebiete, Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung im Westjordanland) vom israelischen Militär abgeriegelt sind, sie können weder zur Arbeit in die Nachbarstädte fahren noch Freunde oder Verwandte besuchen. Dialysepatienten aus Bethlehem dürfen deshalb auch nicht mehr ins arabische Krankenhaus in Jerusalem auf dem Ölberg gebracht werden, sondern müssen sich in einer eigenen Klinik, die sehr schlecht ausgestattet ist und einen miserablen Ruf hat, behandeln lassen.

TRENDYone: Sie möchten im Herbst 2024 eine Reise durch die Negev-Wüste organisieren. Grundsätzlich gefragt, was beeindruckt ihre Reisegäste an Israel am meisten?

Die kulturelle, religiöse und landschaftliche Vielfalt des kleinen Landes, aber auch die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten. Überrascht sind die Reisegäste immer wieder über die gute Zusammenarbeit zwischen arabischen Busfahrern und jüdisch-israelischen Guides. Mehr Infos zur Wüstenreise mit K. Lucke-Huss unter Karin Lucke-Huss Wiggensbach.

TRENDYone bedankt sich bei Karin Lucke-Huss für das Interview. Das Interview führte Jörg Spielberg.

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