Diskussion über „Overtourism" an der Hochschule Kempten

Wunsch und Wirklichkeit

Kempten, 6.Oktober… „Droht dem Allgäu Overtourism?" - „Zu viele Touristen, zu wenig Ruhe?" - „Wieviel Tourismus verträgt das Allgäu?" Mit diesen und ähnlichen Überschriften lenkte die Presse in jüngster Zeit den Fokus der Öffentlichkeit auf das Phänomen Übertourismus. Der Übertourismus beschreibt einen Zustand in einer Region, bei der räumlich wie zeitlich ein starkes Aufkommen von Touristen auftritt, das von vielen Einheimischen trotz wirtschaftlicher Vorteile als unangenehm und unangebracht empfunden wird. Übertourismus tritt an bestimmten Punkten zu bestimmten Zeiten wie beispielhaft in Venedig oder Dubrovnik auf, wenn riesige Kreuzfahrtschiffe tausende von Tagestouristen in die pitoresken Altstädte schaufeln. Im Allgäu sind es Ausflugsziele wie das Schloss Neuschwanstein oder Orte wie Füssen und Oberstdorf, die zu bestimmten Zeiten unter zu vielen Touristen ächzen. Wie es sich genau verhält mit dem Übertourismus im Allgäu, darüber sprach nun eine Runde von Experten auf Einladung der Fakultät Tourismus-Management der Hochschule Kempten.

Neue Befragung

Grundlage der Diskussionsrunde waren die Erkenntnisse, die im Zeitraum März/Mai 2019, bei einer bevölkerungsrepräsentativen telefonischen Befragung von 1.854 Einheimischen zum Thema „Bedeutung und Entwicklung des Tourismus im Allgäu" ermittelt worden waren. Die Ergebnisse der Studie wurden vor der Diskussion durch den Dekan der Fakultät Tourismus-Management Prof. Dr. Alfred Bauer den rund 150 anwesenden Gästen dargelegt. Eingeladen zur Diskussionsrunde, die vom Redaktionsleiter der Allgäuer Zeitung Ulrich Hagemaier moderiert wurde, waren Rolf Eberhardt, Geschäftsführer Naturpark Nagelfluhkette e.V., Stefan Fredlmeier, Vorstand und Tourismusdirektor Füssen Tourismus und Marketing, Thomas Gehring, MdL, II. Vizepräsident des bayerischen Landtages, Mitglied des Kreistages Oberallgäu und Bernhard Joachim, Geschäftsführer der Allgäu GmbH. Abgesagt hatte kurzfristig der Beauftragte der Staatsregierung für Bürgerfragen und Vorsitzender des Tourismusverbandes Allgäu/Schwaben Klaus Holetschek, der einer Stadtratssitzung in Memmingen nicht abkömmlich war.

Allgäu lebt vom Tourismus

Prof. Dr. Alfred Bauer schickte der Diskussion die Ergebnisse seiner Studie voraus. Die Erhebung sollte Zahlen, Daten, Fakten über den Wirtschaftsfaktor Tourismus im Allgäu liefern. Zudem sollten die Effekte des Tourismus auf Ökonomie, Umsatz & Einkommen, den Standort, die Infrastruktur und die Attraktivität beleuchtet werden. Am Ende blieb die Fragestellung, welche Sicht sich daraus auf die Entwicklung des Tourismus bei den Einheimischen ausbildet? Aktuelle Zahlen aus 2016 vom Deutschen wissenschaftlichen Institut für Fremdenverkehr e.V., dwif, belegen die Bedeutung des Tourismus für das Allgäu mit seinen 668.106 Einwohner (Bayr. Allgäu mit Lindau, Stichtag 31.12.2016). Es wurden 3,9 Mio. Gästeankünfte in Beherbergungsstätten gezählt, 13,4 Mio. Übernachtungen und 36,5 Mio. Tagesgäste. Unter dem Strich ergibt sich daraus ein Bruttoumsatz von 3,118,7 Mrd. € für die Tourismusregion Allgäu. Nach allen Abzügen ergibt sich daraus eine Summe von realen Einkommen von 1,508 Mrd. € für die Selbstständigen und abhängig Beschäftigten der Tourismusbranche im Allgäu. Bei den Übernachtungen profitiert der Landkreis Oberallgäu mit einem Anteil von 46,3% am meisten, gefolgt vom Ostallgäu (Füssen mit Neuschwanstein) und dem Landkreis Lindau/Bodensee. Die Allgäumetropole Kempten setzt sich mit deutlichen Vorsprung gegenüber Memmingen und Kaufbeuren in Punkto Städtetourismus ab. Der Anteil aller auswärtigen Besucher des Allgäus, die in der Region übernachten, liegt bei 35,5%. 64,5 % fallen auf die Tagesgäste. Allerdings haben diese nur einen Anteil von 34,9% am Gesamtumsatz im Tourismus, während die Gäste, die über Nacht bleiben, einen Anteil von 65,1% generieren. So verwundert es nicht, wenn der Übernachtungsgast höher in der Gunst der Einheimischen steht, als der z.T. gescholtene Tagesgast, der die Infastruktur nutzt aber im schlimmsten Fall seine Brotzeit gar selbst mitbringt.

Wo Licht ist…ist Schatten

Zweifelsfrei belegen die Studien, dass der Tourismus Effekte auf die Einkommen erzielt, Arbeitsplätze schafft, kommunale Steueraufkommen steigen lässt, die Infrastruktur und die Kultur- und Freizeitangebote verbessert und die allgemeine Lebensqualität steigen lässt. Nachteilig wirkt sich der prosperierende Tourismus im Allgäu auf die Immobilienpreise aus, die markant anziehen. Wie wirken sich all diese Zahlen nun auf das Bewußtsein der Einheimischen aus? In der Befragung der Hochschule Kempten gibt eine Mehrheit an, dass für sie Natur/Landschaft, Ruhe und Erholung, ein gutes Preis-Leistungsverhältnis und gutes Essen die ausschlagebenden Faktoren für einen Urlaub im Allgäu sind. Sehenswürdigkeiten, mögliche Tagesausflugziele und Shopping-Möglichkeiten sind von eher geringer Bedeutung. Aufgrund der hohen Gästezahl im Allgäu, die eine ähnliche Erwartungshaltung an ihre Urlaubsregion haben wie die Befragten, kommt es schliesslich zu Konflikten. Es herrscht eine hohe Verkehrsbelastung mit Luftverschmutzung, die einhergeht mit Ressourcen- und Landschaftsverbrauch. Positiv reagierten die Befragten der Studie auf die These, dass sich der Tourismus im Allgäu „sanft" und naturverträglich entwickeln soll. 91,4% der Befragten stimmten hier zu. Auch der Ansatz, dass sich der Tourismus auf hochwertige Angebote weiterentwickeln soll, wird mit 63,7% bejaht. Nur die Hälfte der Zustimmung erhält die Forderung, dass es im Bereich Wandern, Radeln oder Skifahren mehr Angebote geben soll. Grundsätzlich aber stimmten 87,5% der Befragten der Feststellung zu, dass das Allgäu den Tourismus braucht. So fühlen sich rund drei Viertel der Befragten nicht durch Touristen im Allgäu gestört. Stellt man den Mitwirkenden der Studie allerdings die Frage, welche konkreten Probleme sie mit dem Tourismus verbinden, fallen die Antworten: zu hohes Verkehrsaufkommen, überteuerte Grundstückspreise und Umweltzerstörung. Auch wenn der eigentliche Begriff des „Overtourism" nur einer Minderheit der Befragten geläufig war, so können seine Auswirkungen genau benannt werden. Es gibt zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten ein zu hohes Auftreten von Touristen, was u.a. dazu führt, dass Ortskerne u.a. von Füssen und Oberstdorf zu stark den Erwartungshaltungen der Besucher angepasst werden und somit zu touristischen Kulissen verkommen.

Mobilität ist Schlüsselfrage

In der nachfolgenden Diskussion wurde dieser Punkt herausgearbeitet. Das Allgäu leidet nicht generell sondern punktuell unter zuviel Tourismus. Die Zahl der Tagesgäste ist hoch, lässt sich aber nicht wirklich reduzieren. Die vorhandene Infrastruktur kann von allen Besuchern wie Einheimischen frei benutzt werden, kann aber an vielen Stellen das Verkehrsaufkommen nicht bewältigen. Angesichts einer Verdoppelung der Touristenzahlen innerhalb der letzten 15 Jahre ist die im Allgäu vorhandene Infrastruktur überlastet und kann den Anforderungen der Zeit nicht mehr genügen. Unisono wird dies in der Diskussion von Teilnehmern wie Stefan Fredlmeier, Tourismusdirektor aus Füssen, Thomas Gehring, MdL. und Mitglied des Kreistages Oberallgäu wie auch Prof. Dr. Alfred Bauer beklagt. Sie fordern: „Das Allgäu braucht einen Infrastrukturplan!". „Die Lösung der Mobiltätsfrage ist für alle Betroffene, Gäste wie Einheimische, die zentrale Frage und so fordern wir funktionsfähige Lebensräume, die uns entlasten und das Unbehagen über die gegenwärtige Situation lindern.", bringt es Stefan Fredlmeier auf den Punkt. Unbedingt notwendig sind hierbei aus Sicht der Diskutanten bessere Angebote des ÖPNV mit engerer Taktung und die Schaffung von Verkehrsverbünden mit besserer Vernetzung von Bahn & Bus. Allerdings gibt es auch mahnende Stimmen. So konstatiert Bernhard Joachim, Geschäftsführer der Allgäu GmbH, dass es bereits Angebote des ÖPNV wie die kostenlose KÖNIGSKARTE im Ostallgäu gibt, diese aber leider von vielen nicht angenommen wird. Prof. Dr. Alfred Bauer fasste abschliessend die Stimmung des Abends nach Veränderung, insbesondere in der Mobiltätsfrage, mit seiner Forderung nach einem Masterplan zusammen.

Kommentar

Den Forderungen nach einer breiten öffentlichen Diskussion des Dekans Prof. Dr. Alfred Bauer zu einer Verbesserung der Mobiltät im Allgäu ist zuzustimmen. Noch gewichtiger aber ist seine Mahnung „Wir alle sind Teil des Problems.". Die Diskussion zeigte, dass u.a. die Forderung nach einer Elektrifizierung des Schienennetzes im Allgäu wohl eher dem Wahlkampf geschuldet ist. Die Elektrifizierung im Oberallgäu ist passé, die Elektrifizierung der Strecke München-Memmingen-Zürich ist im vollem Gange (2020). Die angesprochene Elektrifizierung der Strecke Ulm-Kempten ist nicht realistisch, da dieser Abschnitt nicht Teil des europäischen Fernschienennetzes ist. Im Allgäu fahren moderne Neigetechnik-Nahverkehrstriebwagen der Deutschen Bahn. Verspätungen sind im RB-Betrieb eher die Ausnahme. Es gibt regionale Angebote der DB wie das Oberallgäu Ticket für Bus & Bahn sowie das Hopper-Ticket für Verbindungen innerhalb des gesamten Allgäus. Dass die Bahn von einer Elektrifizierung der Strecke Kempten-Buchloe absieht, ist aufgrund der bogenreichen Strecke und damit teuren Elektrifizierung sowie dem baldigen 4-spurigen Ausbau der B12 verständlich. Den Straßenverkehr zeitnah entlasten würde, wenn mehr Menschen, die jetzt schon bestehenden alternativen Angebote tatsächlich nutzen. Viele, die auf Fahrrad und E-Bikes umgestiegen sind, geben hier ein positives Beispiel.