Allgäuer Hochschuldozent Ingmar Niemann analysiert die US-Wahl
Harris vs. Trump
Ingmar Niemann, der bekannte Hochschuldozent von der Hochschule Kempten, analysiert in diesem Interview mit TRENDYone die US-Wahl mit ihren beiden Präsidentschaftskandidaten Kamala Harris von den Demokraten und Donald Trump von den Republikanern. Niemann ist nicht nur ein theoretischer Kenner der USA, sondern hielt sich dort sowohl für berufliche wie private Zwecke über längere Zeit auf. Zuletzt besuchte Niemann in diesem Sommer die Bundesstaaten Pennsylvania, Wisconsin und New York.
Kamala Harris repräsentiert den American Dream, die Vision, dass jeder Bürger der USA die Chance hat, erfolgreich Karriere zu machen, reich zu werden, oder zumindest sich selbst zu verwirklichen. Allerdings hatte sie deutliche bessere Startchancen als die meisten US-Amerikaner. Ihre Mutter war eine indisch-amerikanische Biomedizinerin, ihr Vater ein Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Stanford University in Kalifornien. Sie stammt also aus der oberen Mittelschicht und dadurch war der Karriereweg über ein rechtswissenschaftliches Studium zur Generalstaatsanwältin/ Justizministerin von Kalifornien schon leichter gestaltbar, als wenn es diese guten Startchancen nicht gegeben hätte. Als Senatorin wurde sie dem moderat progressiven Teil der demokratischen Partei zugerechnet. Ihr gewinnbringendes Wesen und ihr ansteckendes Lachen entfachten vielerorts Begeisterung für die demokratische Präsidentschaftskandidatin, besonders in der ersten Phase des Wahlkampfs. Sie hat alle Qualitäten, die es für den Job als Präsidentin der USA braucht.
TRENDYone: Wie schätzen Sie ihre Chancen ein, die erste weibliche US-Präsidentin zu werden?
Als Joe Biden seine Kandidatur zurückzog, ist es ihr schnell gelungen, die Distanz in den Wahlumfragen zu Donald Trump aufzuholen. Dazu trug bei, dass sich viele moderate Republikaner von Trump abwendeten und ganz öffentlich für Kamala Harris Wahlkampf machten. Im August gelang es ihr in den Wahlumfragen sogar, ihren Gegner ein wenig zu überholen. Doch in den vergangenen sechs Wochen ist der minimale Vorsprung vor allem in den wahlentscheidenden Swing-States wieder geschmolzen. Unter Berücksichtigung der Fehlerquote von bis zu zwei Prozent liegen beide Kandidaten gleichauf. Hier eine treffsichere Prognose zu geben ist de facto unmöglich, auch wenn der Trend für sie derzeit eher als „leichtfallend“ zu bewerten ist, und das Momentum aufgrund der wirtschaftlichen Situation mehr auf der republikanischen Seite liegt.
TRENDYone: Welche innenpolitischen Themen bewegen die Menschen in den USA. Sie waren diesen Sommer in Wisconsin, Pennsylvania und New York. Wie ist Ihr Eindruck von der Stimmung im Land?
Die Sorgen und Nöte der Menschen in den USA ähneln sich denen bei uns: Wie entwickelt sich die Wirtschaftslage, wie stark ist der Arbeitsmarkt? Wie werden sich die überall zu spürenden hohen Preise weiter entwickeln? Auch das Gesundheitssystem, das in den USA noch teurer ist als bei uns, steht bereits seit Jahren in der Diskussion. Das Recht auf Abtreibung, dass der Supreme Court landesweit 2022 gekippt hat, ist ein für die Demokraten wichtiges Thema, das sie auf föderaler Ebene wieder einheitlich regeln wollen. Und natürlich die Migrationsfrage. Selbst ehemalige, heute in die Gesellschaft integrierte Einwanderer geben vor der Kamera unumwunden zu, dass der aktuelle Zustand nicht aufrecht zu erhalten ist. Erst spät hat die Biden-Administration auf dieses Problem reagiert, was den Republikanern eine weitere Angriffsfläche bietet.
Überall im Land ist die Spaltung der Gesellschaft greifbar, überall spürbar. Sie trennt Familien aber auch Freunde. Und Joe Biden, der angetreten war, die Spaltung zu überwinden, hat dies nicht geschafft. Die Stimmung, abgesehen vom Aufbruch bei den Demokraten mit einer neuen Präsidentschaftskandidatin Anfang August, ist schlecht. Es fehlt an einem Hoffnungsträger, jemand, der wie Barack Obama, so viel Kraft und Zuversicht vermittelt, dass große Teile der Gesellschaft davon angesteckt werden könnten. Doch es ist kein Politiker in Sicht, der das leisten könnte.
TRENDYone: Außenpolitisch blieb der scheidende Präsident Joe Biden glücklos. Kritiker werfen ihm vor, die Ukraine nicht genug unterstützt zu haben. Waffen wurden vom gesamten Westen zu langsam und in zu geringer Zahl geliefert oder erwiesen sich gegenüber der russischen Wehrtechnik als nicht durchschlagend genug. Im Nahost-Konflikt scheint der Einfluss Bidens auf Israels Premier Benjamin Netanjahu zu gering, um maßgeblich Einfluss auf die Entwicklung in der Region zu nehmen. Die USA scheint lediglich auf Entwicklungen vor Ort zu reagieren, statt proaktiv den Verlauf des Krieges zu beeinflussen, respektive diesen einzudämmen.
Wie werden Ihrer Meinung nach die möglichen Präsidenten Harris oder Trump mit diesen Herausforderungen umgehen?
Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass die Nahost-Politik der Biden-Regierung Kamala Harris Siegeschancen massiv beeinträchtigen könnten. Im Bundesstaat Michigan, einem der Swing-States mit immerhin 15 Wahlmännern, gibt es einen großen Anteil arabisch-muslimischer Wähler, die eigentlich traditionell demokratisch wählen. Aber aufgrund der starken Positionierung der Biden-Regierung zugunsten von Israel gibt es von den immerhin 400.000 Wählern dieser Gruppe Abwanderungsbewegungen zugunsten von Jill Stein, der Präsidentschaftskandidatin der Grünen, die Israels Ministerpräsident Netanjahu sehr deutlich kritisiert. Auch werden sicher einige Wähler dieser Gruppe aus Protest zu Hause bleiben und kein Kreuz abgeben. Harris versuchte zwar, Distanz zu Netanjahu aufzubauen, ihn zum Beispiel bei einem Besuch in Washington „aus Termingründen“ nicht zu treffen, doch das überzeugt offensichtlich viele Wähler der arabisch-muslimischen Bevölkerungsgruppe wenig.
Israel ist für beide Parteien der wichtigste Eckpfeiler demokratischer und US-amerikanischer Interessen im Nahen und Mittleren Osten. Die einzige Demokratie in der Region zu schwächen, kommt weder für die demokratische noch die republikanische Partei in Frage. Die dramatische Entwicklung in den letzten 12, fast 13 Monaten konnte aus Washingtoner Sicht nur „begleitet“ werden. Die Entscheidungen wurden vor Ort getroffen werden. Biden hat versucht, die menschenrechtliche Situation in dem Konflikt zu verbessern, doch einen entscheidenden Einfluss auf die israelische Regierung zu nehmen, war ihm nicht möglich. Als jahrzehntelangem Freund Israels würde es ihm auch nicht einfallen, der politischen Führung dieses Landes in den Rücken zu fallen. In Zeiten existentieller Bedrohung steht man eng zusammen und das wird sich, wer immer diese Wahl gewinnen wird, auch nicht ändern.
Was die Ukraine betrifft, mag Trump zwar eine eigene Sicht der Dinge haben, doch die meisten republikanischen Abgeordneten im Kongress sehen Putin fast genauso kritisch wie ihre demokratischen Kollegen. Die Außenpolitik der USA wird nicht vom Präsidenten allein gestaltet. Vor allem die finanziellen Aspekte werden vom Repräsentantenhaus bestimmt. Daher bleibt abzuwarten, welche Partei diese Kammer des Kongresses dominieren wird. Das Rennen ist auch hier völlig offen.
TRENDYone: Donald Trump will es noch einmal wissen. Der Republikaner, der mitunter in seiner ersten Amtszeit eratisch und unberechenbar regierte (gemäß dem Motto „Do the unexpected") scheint für viele Europäer die schlechtere Wahl. Auch fürchten wohl einige deutsche Politiker, dass ihnen ihre vielen verbalen Entgleisungen über den Ex-Präsidenten nach seiner Abwahl, nun auf die Füße fallen könnten. Wie schätzen Sie Trumps Chancen ein? Immerhin konnte er in J.D. Vance, Robert F. Kennedy Jr. und Tulsi Gabbard (in den USA beliebte Politiker) prominente Mitstreiter für seine Bewerbung um das Amt finden?
Trumps Chancen sind möglicherweise größer, als es die Meinungsumfragen wiedergeben. Viele Wähler vermeiden es, ihre Präferenz für Trump zuzugeben. Deshalb gibt es hier eine Grauzone, die gerade bei gleichauf liegenden Kandidaten, eine entscheidende Größe sein könnte. Noch dazu spielt die wirtschaftliche Kompetenz der Kandidaten für den Wähler eine besondere Rolle. Die meisten US-Amerikaner erhoffen sich vom neuen Präsidenten*in eine bessere eigene finanzielle Situation, sei es durch weniger Inflation, besser bezahlte Jobs oder geringere Steuern. Und hier wird Donald Trump deutlich mehr Kompetenz zugebilligt als seiner Konkurrentin.
Nicht auszuschließen ist auch, dass der Rückzug von Robert F. Kennedy Jr. aus dem Wahlkampf dem Ex-Präsidenten noch ein oder zwei Prozent mehr Zustimmung bringt. Kennedy soll angeblich in einer neuen Trump Administration mit einem Regierungsamt ausgestattet werden, so dass seine Wähler im Falle der Unterstützung von Trump auch Kennedy in verantwortungsvoller Position wiedersehen könnten.
Trumps Wahlkampfpartner J.D.Vance hat zwar in der Fernsehdebatte der Vizepräsidentschaftskandidaten eine gute Figur gemacht, aber als Senator aus dem Bundesstaat Ohio bringt er dem republikanischen „Ticket“ keinen zusätzlichen Gewinn. Ohio wird so oder so „rot“-wählen (rot, die Farbe der republikanischen Partei). Und Tulsi Gabbard, eine ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidatin, die jetzt Trump unterstützt, wird es trotz ihrer Popularität nicht schaffen, ihren Heimatstaat Hawaii zu einem mehrheitlichen Wechsel zugunsten von Trump zu bewegen.
Bleibt hier abschließend noch darauf hinzuweisen, dass auch die Wettbörsen inzwischen Trump vorne sehen. Und hier überlegt sich jeder Teilnehmer sehr genau, auf wen er sein Geld setzt!
Frage 6: Unabhängig davon wer ab Januar 2025 ins Weiße Haus als Präsident:in einzieht, die USA werden von den Europäern mehr militärisches Engagement erwarten, insbesondere was die Lage in der Ukraine betrifft. Derzeit scheint die russische Regierung noch nicht einmal für einer Lösung à la „Land für NATO" zuzustimmen. Was dann?
Wie es sich bereits abzeichnet, werden wir in Zukunft deutlich mehr Geld für Verteidigung ausgeben. Dazu gehört auch die Unterstützung der Ukraine, soweit es unsere Nato-Partner und unsere finanziellen und produktiven Fähigkeiten das Erlauben und die Ukraine das benötigt. Auch unsere eigene Verteidigungsfähigkeit muss sichergestellt werden. Eine kritische Gesamtbetrachtung der militärischen Lage könnte dazu führen, dass wir in Zukunft nicht zwei, sondern bis zu vier Prozent des BIP für Rüstungsgüter ausgeben müssen. Nicht weil ich das gut finde, sondern weil uns die militärische Bedrohung eines aggressiven Russlands - mit militärischen Bündnispartnern wie Nord-Korea und Iran, einschließlich der dahinterstehenden Volksrepublik China – keine andere Wahl lässt, als durch angemessene Abschreckung unser Lebensmodell erfolgreich zu verteidigen. Hier sitzen wir alle in einem Boot, die USA, die Europäische Union und alle Demokratien, die es bis jetzt nicht geschafft haben, sich erfolgreich und rechtzeitig einem freiheitlichen Wertebündnis anzuschließen. Diese Herausforderung gilt es anzunehmen!