Pro-Contra-Debatte: In der Glaubensgemeinschaft bleiben oder austreten?

Argumente für und gegen einen Kirchenaustritt

Die Kritik an der katholischen Kirche ist groß. Zum ersten Mal seit Jahrhunderten sind weniger als die Hälfte der Deutschen Mitglieder einer christlichen Kirche und die Zahlen sinken weiter. Für die Austrittswelle sorgen immer wieder zutage tretende Skandale und Gräueltaten. Die Kirchensteuer spielt dabei ebenso eine tragende Rolle, da für viele die Entscheidung, ob eine Person einer Religion zugehören möchte, keine Geldangelegenheit sein sollte. Wir von TRENDYone haben erneut zwei spannende Personen gegenübergestellt, um das Thema „Kirchenaustritt“ genauer für euch unter die Lupe zu nehmen.

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Bild: stock.adobe / sewcream
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Maximilian RichterBild: Maximilian Richter
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Michaela WuggazerBild: Pressestelle Bistum Augsburg
PRO:

Maximilian Richter: Mitarbeiter im Wahlkreisbüro von Susanne Ferschl, MdB

(Sprecher*innenrat DIE LINKE. Augsburg)

Wie stehen Sie zu einem Kirchenaustritt?

Ich begrüße die aktuelle Entwicklung, wonach die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr einer der beiden großen Kirchen angehört. Religionsfreiheit heißt eben auch, frei von Religion sein zu können und somit ist auch der Kirchenaustritt legitim. Allerdings muss dieser erheblich erleichtert werden, damit er für alle Menschen möglich wird. Dazu gehört unter anderen, dass keine Gebühren erhoben werden. Auch darf die Furcht vor Verlust des Arbeitsplatzes bei dieser Entscheidung keine Rolle spielen. Im Grundgesetz ist die Trennung von Kirche und Staat als wichtiger Grundpfeiler der Demokratie festgeschrieben. In der Realität sieht das allerdings oft anders aus. Kirchliche Sonderrechte, wie im Arbeitsrecht, müssten zunächst abgebaut werden. Gemäß des Neutralitätsgebotes sollten auch keine christlichen Symbole in öffentlichen Einrichtungen angebracht werden. Den Religionsunterricht gilt es durch einen allgemeinen Ethik- bzw. Philosophie-Unterricht zu ersetzen, bei dem Religions- und Ideologiekritik Bestandteil sein sollten.

Was bewegt Ihrer Meinung nach Menschen zu einem Austritt?

Da sind wohl verschiedene Faktoren ausschlaggebend. Zum einen gibt es natürlich eine lange Liste an Skandalen, nicht nur in den letzten Jahren. Bis heute beschäftigt viele die mangelhafte Aufklärung sexueller Übergriffe an Kindern durch Bedienstete der Kirche oder die massive Verschwendung finanzieller Mittel. Zum anderen spielt die Diskriminierung von queeren Personen und die Eingriffe in das Privatleben durch das kirchliche Arbeitsrecht sicher eine Rolle. Viele Menschen merken aber auch, dass die Kirche keine Antworten auf die Krisen unserer Zeit geben kann. Gerade jüngere Menschen haben auch kein Verständnis mehr für die rigide Sexualmoral oder Tanzverbote an bestimmten Feiertagen. Und nicht zuletzt natürlich die Kirchensteuer.

Ist es für Sie noch zeitgemäß, für seinen Glauben zu bezahlen, während andere Glaubensrichtungen dies nicht tun?

Keinesfalls. In vielen Ländern wäre es undenkbar, dass Religionsgemeinschaften und Kirchen direkt vom Staat finanziert werden oder, wie bei der Kirchensteuer, der Staat sich als Dienstleister der Kirchen aufstellt und deren Einnahmen einzieht. 

Wie beurteilen Sie die Konsequenzen, die nach einem Austritt erfolgen?

Neben den kirchenrechtlichen Folgen, wenn es zum Beispiel um Hochzeiten oder Beerdigungen geht, sind hier die potenziellen Konsequenzen im Arbeitsleben wohl am gravierendsten. Da ein Austritt als Loyalitätsverstoß gesehen wird, muss man mit Kündigung oder Nichteinstellung rechnen. Dagegen sollte man sich in jedem Fall zur Wehr setzen. 

Vielerorts sind die Kirchen Träger von eigentlich staatlichen und damit der Neutralität verpflichteten Bildungseinrichtungen wie Schulen und Kindertagesstätten, aber auch im Bereich der Pflege. Aufgrund der langjährigen kirchlichen Sonderstellung stehen jedoch häufig gar keine konfessionsneutralen Träger zur Verfügung. Daher sollte diese Dominanz schrittweise aufgehoben werden. Dann gilt auch für alle Beschäftigten wieder das reguläre Arbeitsrecht und man muss keine Angst vor dem Kirchenaustritt haben.

CONTRA: 

Michaela Wuggazer: 
Pastoralreferentin (Diözese Augsburg)

Die Kirche ist ein Reizthema. Sie wird von inner- und außerkirchlichen Autoren sehr unterschiedlich bewertet. Während Bistümer die Steuer lieber als eine Finanzierung der Ausgaben der Gemeinschaft ansehen, bemängeln Kritiker ihren Zwangscharakter und die mit ihr verbundene fehlende Trennung von Staat und Kirche. Michaela Wuggazer erläutert uns ihre Argumente gegen einen Kirchenaustritt.

Wie stehen Sie zu einem Kirchenaustritt?

Mit meiner Taufe wurde ich Teil dieser Kirche. Ich bin mit unzähligen anderen Getauften diese katholische Kirche. Wir sind Kirche. Und so wie ich vor einer Krebsdiagnose nicht weglaufen werde, so werde ich Teil dieser Kirche bleiben und alles tun, was einer Gesundung dient.

Was bewegt Ihrer Meinung nach Menschen zu einem Austritt?

Vielen ist die Kirche fremd geworden. Sie sehen „Kirche“ als ein Gegenüber, mit dem sie nichts mehr anfangen können, von dessen Verhalten sie sich distanzieren. Einige möchten Kirchensteuer sparen. Andere sind als Teil dieser Kirche verletzt worden. Sie erleben sich als ausgegrenzt und ohne Hilfe. Sie halten die Diskrepanz zwischen dem, was gelehrt und dem, was gelebt wird, nicht mehr aus. Liebe, Annahme, Vergebung, Großzügigkeit und Gerechtigkeit werden zu wenig erfahren. Wandlung ist in der Katholischen Kirche ein zentrales Geschehen und dennoch wandelt sich zu wenig zu langsam. Entmutigt von der Trägheit dieses Wandlungsprozesses verlassen auch engagierte Christen die katholische Kirche, um sich in einer anderen Kirche für die christliche Botschaft einzusetzen.

Ist es für Sie noch zeitgemäß, für seinen Glauben zu bezahlen, während andere Glaubensrichtungen dies nicht tun?

Niemand bezahlt für Glauben! Glauben ist Geschenk Gottes. Für die Aufgaben einer Gemeinschaft müssen nicht nur Zeit und Fähigkeiten, sondern auch Geld bereitgestellt werden. Das wird unterschiedlich organisiert. Steuer ist eine Möglichkeit, für eine gerechte Verteilung der Lasten zu sorgen: Reiche zahlen viel, Arme nichts, die dazwischen ihren Einnahmen entsprechend. Man kann darüber streiten, wer diese Einnahmen verteilt. In der Schweiz bestimmen Gemeindegremien vor Ort über die Verteilung der Finanzen. Eine interessante Variante. Natürlich kann man den Finanzbedarf einer Kirche auch rein über freiwillige Abgaben der Einzelnen organisieren, wie es außerhalb von Deutschland, Österreich und der Schweiz für die Kirche(n) gilt. Das führt zu einem intensiveren Kontakt, aber auch zur Dominanz der Reichen und teilweise zum Druck auf Normalverdienende. Steuer ist demokratischer, finde ich. Und sie ermöglicht auch Geringverdienenden, sich als gleichwertig und nicht als Almosenempfänger zu fühlen.

Wie beurteilen Sie die Konsequenzen, die nach einem Austritt erfolgen?

Für viele ist der Ausschluss von Diensten und Sakramenten nichts, das sie vermissen. Manche kommen wieder zurück, wenn sie von Freunden als Patin, als Pate angefragt sind. Das ist eine neue Chance. Andere werden nachdenklich, wenn sie selbst Kinder bekommen. Dass die Trennung von der katholischen Kirche auch im Tod respektiert wird, erschreckt manche, die nicht auf eine katholische Beerdigung verzichten möchten. Eine Rückkehr ist immer möglich. Ein Gespräch vor einem Austritt auch. Für die Engagierten, die bleiben, sind die Konsequenzen am bittersten. Weniger Kräfte, die sich einsetzen für eine lebendige, weltoffene Kirche zum Wohl aller.