Interview mit dem Politikwissenschaftler der Hochschule Kempten Ingmar Niemann

Plädoyer für Minderheitsregierung

TRENDYone sprach mit dem bekannten Politikwissenschaftler der Hochschule Kempten Ingmar Niemann über den Ausgang zur Bundestagswahl.

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Der Politikwsenschaftler der Hochschule Kempten Ingmar Niemann analysiert das Ergebnis der Wahl zum 21. Deutschen Bundestag.Bild: pixabay R.Diam
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Der Politikwsenschaftler der Hochschule Kempten Ingmar Niemann analysiert das Ergebnis der Wahl zum 21. Deutschen Bundestag.Bild: Joerg Spielberg
TRENDYONE: Herr Niemann, alea iacta est, die Würfel sind gefallen, das Volk hat den 21. Bundestag gewählt. Ihr erstes Fazit?

Es wird nicht einfacher, Deutschland zu regieren! Die politischen Ränder haben massiv auf beiden Seiten dazugewonnen. Die politische Mitte ist erodiert, in 50 von 299 Wahlkreisen reicht es für CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP zusammen nicht mal mehr zu 50% der Stimmen! Bei der letzten Bundestagswahl war dies in nur zwei Wahlkreisen der Fall! Wenn jetzt nicht ein Ruck durch das Land geht, und politisch neue Wege beschritten werden, dann wird es in vier Jahren ein schlimmes Erwachen geben!
 
TRENDYONE: Die Union ist Wahlsieger. Was wäre Ihre Empfehlung für die Christparteien? Koalition und wenn mit wem oder Minderheitsregierung?

Alle Analysten und Journalisten gehen derzeit von einer schwarz-roten Koalition aus. Ich selbst bin da eher skeptisch. Die SPD weiß, dass die Union auf sie angewiesen ist, eine andere Option zu einer Koalition ergibt sich bei diesem Wahlergebnis und dem Ausschluss der radikalen Kräfte im Parlament für eine Zusammenarbeit nicht. Daher wird die SPD versuchen, den Preis für eine Koalition mit der Union so hoch wie möglich zu treiben.
Eine ähnliche Situation hatten wir bereits vor wenigen Jahren bei dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen. Die SPD wusste damals auch, dass es zu ihr nun keine Alternative mehr gab. Am Ende bestand der Koalitionsvertrag zu 75 % aus SPD-Forderungen, wie Analysten übereinstimmend feststellten. Und dies, obwohl die SPD kurz zuvor die Bundestagswahl 2017 deutlich verloren hatte.
Grundlegend muss auch erwähnt werden, dass die deutsche Politik in den letzten 27 Jahren ganz wesentlich von der SPD geprägt wurde. Lediglich vier Jahre lang, von 2009 bis 2013, war die Partei in der Opposition, ansonsten immer in der Regierung. Eine Erneuerung von Inhalten und Positionen war somit kaum möglich. Kein Wunder, dass das letzte Grundsatzprogramm der SPD, das Hamburger Programm, aus dem Jahr 2007 stammt! Seitdem ist viel passiert und die Welt hat sich grundlegend verändert.

Was vor dreieinhalb Jahren „we are family“ zwischen Gelb und Grün war, ist zwischen Schwarz und Rot jetzt schon offener Streit und Abgrenzung.
Lars Klingbeil verlangt, bevor überhaupt irgendwelche Verhandlungen stattgefunden haben, dass Friedrich Merz seinen Kurs ändern soll!
Darüber hinaus gibt es erhebliche Konfliktfelder. Eins davon ist die Migrationspolitik, insbesondere die Frage nach der Zurückweisung von Asylbewerbern an den deutschen Grenzen, sowie die Aussetzung des Familiennachzugs subsidiär Schutzberechtigter. Hier liegen beide Parteien genauso weit auseinander wie bei der Steuerpolitik. Die Union befürwortet milliardenschwere Steuerentlastungen für Unternehmen wie auch für die Bürger. Die SPD dagegen möchte lediglich einen „Made in Germany“-Bonus, der 10% der Kosten für Investitionen in Fahrzeuge oder Maschinen ausmachen soll. Ist so die wirtschaftliche Krise zu meistern?
Und da ist noch die „Taurus“-Frage: Die SPD lehnt die Lieferung dieses Marschflugkörpers an die Ukraine ab, Friedrich Merz befürwortet den Transfer. Also selbst in der Frage der Unterstützung der Ukraine ist man sich nicht wirklich einig!

TRENDYONE: Aber gibt es nicht auch Verbindendes zwischen den beiden Parteien? Aspekte und Positionen, auf denen man aufbauen könnte?

Ja sicher, die gibt es! Aber sie lassen sich halt an einer Hand abzählen. Beide wollen die Wirtschaft ankurbeln, so zum Beispiel über niedrigere Energiepreise, insbesondere über die Senkung der Strompreise. Nur der notwendige „große Wurf“ ist das nicht!
Auch ein höherer Etat für das Verteidigungsministerium ist Konsens, doch wie der finanziert werden soll, ist schon wieder umstritten. Der Umgang mit der Schuldenbremse bleibt dabei weiterhin ungeklärt.
Beide Parteien haben sich in den letzten Jahren immer als Anwälte der Rentner-Generation ausgegeben. Das wird sich allein aufgrund der Bedeutung dieser Wählerklientel für beide Parteien nicht ändern. Nur wie das Rentenniveau von 48 % dauerhaft gesichert werden soll, ist bereits Streitthema!

Ich würde CDU und CSU daher raten, eine Minderheitsregierung der Union anzustreben. Das ist sicherlich mehr Aufwand und Arbeit, aber nur so kann eine Erneuerung des Landes funktionieren und dafür haben die konservativ-liberalen Schwesterparteien gerade in den letzten Monaten wichtige programmatische Weichen gestellt. Im Übrigen haben andere europäische Länder bereits bewiesen, dass eine Minderheitsregierung funktionieren und auch erfolgreich regieren kann. Mutige Politiker, die bereit sind neue Wege zu gehen, braucht das Land!
  
TRENDYONE: Die FDP gehört nicht mehr dem Deutschen Bundestag an. Was wird aus der Partei, die nur noch in wenigen Landesparlamenten vertreten ist und auch kommunal eher dürftig aufgestellt ist?

Der Verlust einer liberalen Partei im Parlament wiegt schwer, das wird auch in den nächsten Jahren deutlich werden. Immerhin ist der Liberalismus der philosophische Kern unserer modernen Demokratie. Zum Glück haben andere Parteien liberale Positionen aufgegriffen, so dass die Lücke hoffentlich nicht zu groß wird. Dennoch, eine Erneuerung der FDP steht an. Nach dem Rückzug von Herrn Lindner sehe ich aber nur Wenige, die das leisten können. Das Schicksal der FDP wird sich daher bereits im Mai entscheiden, wenn über neue Köpfe und Inhalte abgestimmt wird.
 
TRENDYONE: Die AfD nicht ganz so stark wie prognostiziert, aber dennoch zweitstärkste Partei im Bundestag und somit Oppositionsführer im Parlament. Was ist von der Alternative für Deutschland in der kommenden Legislatur zu erwarten?

Die AfD hat ihre Prozente verdoppelt. Das ist ein großer Erfolg, der allerdings nur wenig Konsequenzen haben wird. Keine andere Partei will mit ihnen koalieren oder auch nur Absprachen treffen. Dennoch wird die AfD versuchen mit Anträgen, die unionsnahe Inhalte wiedergeben, Mehrheiten mit der Union zu erreichen. Das wird nicht erfolgreich sein, aber die Union wird, wenn nötig, die Stimmen der AfD „in Kauf nehmen“, wenn, wie vor kurzem bei der Abstimmung im Bundestag über die Migrationspolitik, ihre Positionen dadurch unterstützt und gestärkt werden.
 
TRENDYONE: Trotz hoher Medienpräsenz, das BSW von Sahra Wagenknecht scheitert knapp an der 5 Prozent Hürde. Woran könnte es gelegen haben?

Sarahs Themen haben sich weitgehend erledigt: Die Ampel gibt es nicht mehr, Russlands Krieg in der Ukraine wird mit Trump so oder so ein absehbares Ende finden, und Chancen auf eine Machtbeteiligung gab es schon vorher nicht wirklich. Warum dann BSW wählen? Besser die Linke, das Original, eine Partei die mit Fundamentalopposition und cleverem Wahlkampf viele, vor allem junge Wähler überzeugte. Die haben deutlich dazugewonnen, obwohl sie vor sechs Monaten als eigentlich „erledigt“ galten.
 
TRENDYONE: Die Grünen/Bündnis 90 stagnieren, und mobilisieren nur noch die eigene Stammwählerschaft. Warum?

Umweltthemen haben in diesem Wahlkampf so gut wie keine Rolle gespielt. Die Kernkompetenz von Bündnis 90/ Die Grünen stand fast nirgends zur Diskussion. Dagegen waren Wirtschafts- sowie Migrationsthemen die dominanten Wahlkampfinhalte. Und da der Wirtschaftsminister als weitgehend gescheitert gilt, und bei der Migrationsbeschränkung sich die Grünen eher zurückhaltend positionierten, konnten sie im Wahlkampf auch nicht punkten. Aber die Stammwählerschaft ist dennoch zur Wahlurne gegangen.

TRENDYONE: Was würden Sie abschließend der neuen Regierung empfehlen?

Reformen an Haupt- und Gliedern. In diesem Land muss nach 20 Jahren Stillstand fast alles umgekrempelt werden. Die Schuldenbremse muss bleiben, denn sonst droht unsere Währung deutlich abzuwerten - mit absolut unerwünschten Inflationsfolgen! Ein Thema, das leider nirgends in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Darüber hinaus braucht es mehr privates Geld für öffentliche Interessen. Sogenannte Public-Private-Partnerships (PPP) sind das Gebot der Stunde!
Der Wohnungsbau muss in Deutschland grundlegend neu gedacht und umgesetzt werden! Die Rente muss reformiert werden: „Rente mit 63“ abschaffen, steuerfreies Weiterarbeiten ermöglichen, Altersvorsorgedepot einführen! Allein mit diesen drei Punkten wäre schon viel erreicht!
Ein großer Wurf in der Steuerpolitik mit erheblichen Entlastungen bei Unternehmen und Bürgern ist die sicherste und schnellste Möglichkeit aus der Rezession zu kommen. Gleichzeitig müssen Investitionen in Zukunftstechnologien angeregt und weltweit nach Deutschland gelenkt werden. Die „Bildungsnation“ muss zurück in die Köpfe, damit unser rohstoffarmes Land wieder eine nachhaltige Perspektive bekommt.
Leistung muss sich wieder lohnen, und dennoch müssen Bedürftige ausreichend abgesichert sein. Die Balance ist die politische Kunst, die es zu gestalten gilt, und die beim Bürgergeld nicht gegeben ist.
Die US-Amerikaner sind unsere Freunde und Partner, auch wenn sie derzeit einen etwas schwierigen Präsidenten haben. Mit diesem Mann kreativ umgehen und gleichzeitig nicht die eigenen Positionen aufgeben, ist die Vorgehensweise, die hier erforderlich ist.
Krieg braucht Diplomatie, um Frieden zu gestalten. Doch Frieden braucht Absicherung, um langfristig zu wirken. Mehr Rüstung ist daher unvermeidlich.
Habe ich was vergessen? Ja, es muss ein Ruck durch Deutschland gehen!

Herr Niemann, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Das Interview führte Joerg Spielberg