Allgäuer Hochschuldozent Ingmar Niemann sprach über die Unmöglichkeit zur „Kriegstauglichkeit"
CSU-Kempten lädt ein zum Vortrag über die „Zeitenwende"
Kempten…„Zeitenwende" ist das Wort, das seit der Rede des Bundeskanzlers Olaf Scholz zu möglichen Reaktionen auf den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit die Runde macht. Wie ernst aber meinen es Politiker, wenn sie angesichts zunehmender internationaler Bedrohungslagen davon reden, die Landesverteidigung auf neue, starke Füsse stellen zu wollen und von „Kriegstüchtigkeit" fabulieren? Die Wirklichkeit ist ernüchternd, so resümiert es der Hochschul- und Universitätsdozent Ingmar Niemann in einem interessanten Vortrag, zu dem die CSU-Kempten mit ihren Ortsverbänden Kempten -Nord, -Süd, -West und -Lenzfried ins Hotel Waldhorn in Kempten eingeladen hatte.
Da geographisch am nächsten gelegen, konzentriert sich Niemann mit seiner Analyse zur Wehrhaftigkeit der Bundeswehr auf den Konflikt der in anderthalbstündiger Flugentfernung liegenden Ostukraine, wo Putins Vision eines „Novorossiya" seit 1.000 Tagen blutige Züge annimmt. Dabei umfasst Putins Vorstellung eines neuen Russland nicht explizit alle Territorien der ehemaligen Sowjetunion, wohl aber all die Gebiete im Osten Europas, in denen russische Minderheiten in den Nachfolgestaaten der GUS leben, wie u.a. im Baltikum, Georgien, Belarus, Moldawien und in den vier Oblasten der Ost- und Südost-Ukraine, dem sogenannten Donbass. Als Begründung für die Expansion Russlands führt Wladimir Putin und seine Entourage die Ausdehnung der NATO auf, die sich seit 1949 in mehreren Schüben vollzogen hat. „Die Ausdehnung der NATO, z.T. bis an die Grenzen Russlands, ist real, allerdings steht es Staaten zu, sich frei für die Zugehörigkeit zu einem Militärbündnis zu entscheiden.", so Niemann. Nun unternimmt die NATO Anstrengungen, um ihr Abschreckungspotential zu erhöhen. Geschaffen werden sollen multinationale Streitkräfte, die an den östlichen Aussengrenzen Europas stationiert werden, wie u.a eine mechanisierte Bundeswehrbrigade mit 4.800 Soldaten und 200 zivilen Bundeswehrangehörigen. Dabei steigen die Erwartungen der NATO an die Bundeswehr darüber hinaus an, bereits 2025 soll nach dem New Force Model die BW der NATO 30.000 Soldaten und 85 Schiffe und Flugzeuge unterstellen.
Stark wie ein Bär
Wie aber sieht es tatsächlich um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr aus? Der Global Firepower Index 2024, der jährlich ein Ranking der schlagkräftigsten Armeen aufstellt, stuft die Schlagkraft der Bundeswehr als schlecht ein, noch hinter den Armeen von u.a. Ägypten, Indonesien oder Japan. Die mangelnde Einsatzfähigkeit resultiert nicht allein auf eine zu geringe Truppenstärke (228.000), sondern auch auf einem eklatanten Mangel an einsatzbereitem Material. So verfügt die BW gerade einmal über maximal 400 Kampfpanzer, 240 Kampfflugzeuge und 140 Artillerie-Haubitzen. Eine Verteidigung einer Kampflinie von über rund 600 km wäre faktisch unmöglich. Eine Anpassung der Materialbestände an das Niveau von 2004 würde trotz Zeitenwende und Sondervermögen bis in die 40er Jahre andauern. Ein potentieller Gegner wie Russland steht weitaus besser da. Die Produktionskapazitäten sind derzeit so groß, dass der gesamte Bestand der Bundeswehr in einem halben Jahr hergestellt werden könnte. Die Flugabwehr wurde verdoppelt, die Panzerproduktion verdreifacht, die der Drohnen hat sich versechsfacht. Die russische Armee im Donbass ist dank nordkoreanischer Unterstützung in der Lage pro Tag 10.000 Artillerie-Granaten des Kalibers 175 mm zu verschiessen. Besonders beängstigend ist die russische Überlegenheit bei möglichen Angriffen mit Supersonic und Hypersonic Missiles, wie der unlängst eingesetzten „Oreschnik"-Rakete, die eine Rüstungsfabrik im ukrainischen Dnipro zerstörte.
Wackelige Allianz
Der Schieflage bei der konventionellen Ausstattung, setzt die NATO ihr Atomwaffenpotential entgegen. Aktuell sind 180 US Atombomben einsatzbereit in Deutschland, Großbritannien verfügt über 225 Atomsprengköpfe, die ausschliesslich U-Boot gestützt sind, und die Force de Frappe kann im Ernstfall auf 290 Atomsprengköpfe zurückgreifen. Soweit die Zahlen. Niemann verweist allerdings auf die aktuellen politischen Verwerfungen, die den Zusammenhalt der NATO eher schwächen als stärken. Mit Präsident Trumps Rückkehr ins Weiße Haus, verstärkt sich weiter der Druck auf Deutschland, die eigenen Streitkräfte aufzurüsten. Frankreichs Präsident Macrons Macht erodiert aufgrund der Überschuldung seines Landes und eines immer stärker werden Rassemblement National von Marine Le Pen. Fraglich, ob unter einer zukünftigen Präsidenten Le Pen Frankreich seine Bereitschaft aufrecht erhält, mit seiner Force de Frappe auch europäisches Territorium zu verteidigen, so Niemanns Vermutung. „Le Pen erhält proaktiv Unterstützung aus dem Kreml, ihre Zuverlässigkeit in einem NATO-Bündnis ist in Frage zu stellen, vulgo ohne Frankreich ist Europa nicht verteidigungsfähig.", so der Experte für internationale Politik Ingmar Niemann. Mit Robert Fico als MP der Slowakei und Victor Orban als MP Ungarns gibt es bereits zwei EU-Staatschefs, die entgegen der Haltung der EU-Kommission gute Beziehungen mit Russland pflegen.
Wahrhaftigkeit
Daher zieht der Hochschuldozent am Ende seiner Ausführungen ein eher düsteres Bild von der tatsächlichen Wehrhaftigkeit Deutschlands ohne überhaupt den Begriff „Kriegstauglichkeit" zu bemühen. „Die Zeitenwende-Rhetorik ist in Anbetracht der militärischen Schwäche Deutschlands komplett unrealistisch!", so Ingmar Niemann. Von der Politik erwartet Niemann Klartext und einen geraden Rücken. „Ich verlange, dass die verantwortlichen Politiker an dieser Stelle den Bürgern reinen Wein einschenken." Derweil erlebt der Deutsche Bundestag eine weitere Posse um die von vielen so plakativ geforderte Lieferung von „Taurus"-Marschflugkörpern an die Ukraine. Vergangene Woche verkündete der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr, dass die FDP diese Woche einen Antrag zur Lieferung von „Taurus"-Marschflugkörpern in den Deutschen Bundestag einbringen wird. Nachdem sich zuvor Kanzlerkandidat Friedrich Merz dezidiert für eine solche Lieferung ausgesprochen hat, kam nun das Signal aus der Unionsfraktion diesem Antrag nicht zustimmen zu wollen. Begründung lt. Bild 24.11.24: „Die FDP hatte mehrfach in der Wahlperiode die Gelegenheit, unseren Anträgen zuzustimmen. Warum sie damals dagegen, jetzt plötzlich dafür ist, kann man nur mit Wahlkampf erklären. Da die Grünen definitiv dagegen stimmen und der Kanzler ohnehin starrsinnig bleibt, wird die Union nicht mitmachen." Zur Ehrenrettung der Union sei gesagt, dass sich der Kanzlerkandidat der Grünen Robert Habeck auch für eine Lieferung von „Taurus"-Marschflugkörpern ausgesprochen hat, wohl wissend, dass darüber vor den Neuwahlen nicht mehr abgestimmt wird…
Lebhafte Diskussion
Im Anschluss an den Vortrag von Ingmar Niemann wurden die rund 60 Besucher der Veranstaltung durch den CSU-Ortsvorsitzenden Kempten-Süd Stephan Prause zu Fragen an den Auslandsexperten eingeladen, was viele gerne in Anspruch nahmen. Es zeigte sich eine generelle Skepsis, ob der eingeschlagene Weg, um zu einer einvernehmlichen Lösung für alle Parteien im Ukraine-Krieg zu kommen, der richtige war. Große Sorgen wurden um den Zustand der deutschen Wirtschaft geäußert und die Befürchtung ausgesprochen, dass unter all den negativen Entwicklungen am Ende auch die Demokratie in Deutschland Schaden nehmen könnte, weil es mutmaßlich nach der Meinung mancher Autokratien besser richten würden.