Allgäuer Hochschuldozent Ingmar NIemann zur Lage in Frankreich

«(K)ein Befreiungsschlag»

Ein Beobachter der französischen Innenpolitik formulierte es so: Weil er seinen „Tod" fürchtete, hat Präsident Macron „Selbstmord" begangen. Ob Macron mit seiner Entscheidung, nach dem enttäuschenden Abschneiden seines Wahlbündnisses „Ensemble" bei den Europawahl vom 9. Juni, sofortige Neuwahlen anzusetzen, nun tatsächlich seinen „politischen Selbstmord" in Gang gesetzt hat, das und andere Folgen der französischen Parlmantswahlen analysiert und beurteilt für TRENDYone der bekannte Universitäts- und Hochschuldozent Ingmar Niemann. Ingmar Niemann ist Lehrbeauftragter für Asienkunde an der Technischen Universität München, für Globalisierungsprozesse an der Hochschule Kempten/Allgäu und unterrichtet Politik- und Wirtschaftswissenschaften an der Budapester Wirtschaftsuniversität und am Münchner New European College.

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Hochschuldozent Ingmar Niemann von der Hochschule Kempten analysiert die Parlamentswahlen in Frankreich.Bild: Spielberg/Pixabay
TRENDYone: Sehr geehrter Herr Niemann, der französische Präsident Macron hat am Abend der Europawahl angekündigt, die Nationalversammlung aufzulösen und Neuwahlen auszuschreiben. Diese haben nun in der zweiten und entscheidenden Runde am vergangenen Sonntag stattgefunden. Wie schätzen Sie das Ergebnis ein?

Ingmar Niemann: Präsident Macron hat mit der Auflösung der Nationalversammlung die Flucht nach vorne angetreten. Wahrscheinlich hätte er sowieso im Herbst das Parlament auflösen müssen, da er dort für den Haushalt 2025 bzw. für die notwendigen finanziellen Reformen keine Mehrheit hatte. Deswegen hieß die Devise auch „sauver les meubles“, auf deutsch so viel wie „retten, was noch zu retten ist“. Und das scheint der Präsident trotz erheblicher Verluste seiner eigenen politischen Bewegung, geschafft zu haben, insbesondere weil die rechts-radikalen Kräfte nicht an die Macht kommen und er als Zweitplatzierter im Rennen ankam. Das ist allerdings ein Ergebnis des Wahlrechts in Frankreich und der Wahlabsprachen zwischen „Ensemble“, dem Wahlbündnis von Macron, und der Nouveau Front Populaire (NFP), der linksradikalen Sammlungsbewegung um Jean-Luc Mélenchon. Damit stellen die radikalen Kräfte zur politisch rechten wie linken Seite die Mehrheit in der französischen Nationalversammlung.

TRENDYone: Wie kann es sein, dass ein Parteienbündnis mit 37 % der Wählerstimmen (Rassemblement National) weniger Sitze in der Nationalversammlung erhält, als die hinter ihr liegenden Parteienbündnisse mit 26 % („Ensemble“, dem Wahlbündnis von Macron) und 23 % (Nouveau Front Populaire) der Wählerstimmen?

Ingmar Niemann: Das Wahlrecht in Frankreich ist etwas kompliziert, aber um es kurz zu fassen: Ein Abgeordneter braucht entweder im ersten Wahlgang mindestens 50 % der Stimmen oder im zweiten Wahlgang eine relative Mehrheit gegenüber den Konkurrenten. Zugelassen werden im zweiten Wahlgang alle Kandidaten, die mehr als 12,5 % der Stimmen im ersten Wahlgang hatten oder die zwei Kandidaten, die die meisten Stimmen hatten. Wenn, wie geschehen, zwei Wahlbündnisse sich absprechen und in jedem Wahlkreis der schwächere Kandidat zurückzieht und für den Stärkeren von den beiden wirbt, dann sind die beiden schwächeren Parteienbündnisse zusammen stärker als das führende Parteienbündnis. So zumindest erklärt sich, warum das Rassemblement National -Bündnis von Marine Le Pen mit 143 Sitzen im Parlament nur auf Platz drei bei den Abgeordnetensitzen gelandet ist, während die NFP Platz 1 mit 180 Abgeordneten erreichte, und Macrons „Ensemble“ immerhin noch 163 Mandate erringen konnte.

TRENDYone: Also hat das Rassemblement National eine Niederlage erlitten?

Ingmar Niemann: Das lässt sich so einfach nicht sagen. Ihr Ziel, die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung zu erreichen und den Präsidenten damit zu zwingen, einen Vertreter aus ihren Reihen zum Premierminister zu ernennen, haben sie nicht erreicht. Aber Ihre Zahl der Abgeordneten hat sich deutlich erhöht. In der vergangenen Legislaturperiode hatten sie nur 88 Sitze, jetzt haben sie einen Zugewinn von mehr als 50% ihrer vorherigen Abgeordnetenzahl auf immerhin 143. Damit werden sie in der französischen Politik noch sichtbarer, noch hörbarer. Und gleichzeitig ist das Wahlergebnis ein guter Ausgangspunkt für die Präsidentschaftskandidatur von Marine Le Pen in 2027!

TRENDYone: Wer ist dann der Verlierer?

Ingmar Niemann: Die bürgerliche Mitte Frankreichs, die Macron ohne Skrupel in dieser „Wahlschlacht“ aufs Spiel gesetzt hat. Seine eigene Bewegung „Ensemble“ hat 80 Sitze verloren! Les Républicans, die Konservativen, sind nur noch mit 39 statt 61 Mandaten in der 17. Nationalversammlung der Fünften Republik vertreten. Einzelne Vertreter von anderen Miniparteien fallen hier nicht mehr ins Gewicht.

TRENDYone: Konsequenterweise muss dann also die Neue Volksfront (Nouveau Front Populaire, NFP) die Siegerin der Wahl sein! Oder sehen sie das anders?

Ingmar Niemann: Von den Zahlen her ja, inhaltlich nein. Auch die NFP hat keine absolute Mehrheit im Parlament. Und ihre inhaltlichen Positionen sind – nüchtern betrachtet – nicht umsetzbar.

TRENDYone: Der Linksrutsch bleibt also aus? Alles bleibt beim Alten?

Ingmar Niemann: Die Umsetzung einer von Melanchon und anderen linken Politikern gewünschten ausgedehnten Sozialpolitik ist reine Illusion. Bei einer Verschuldung von 110 % gemessen am Bruttoinlandsprodukt, ist kein Raum für sozialpolitisches Wunschdenken! (Erhöhung des Mindestlohns, Rücknahme der von Macron per Dekret durchgesetzten Rentenreform, Einfrieren der Preise für Grundnahrungsmittel etc.). Der Staat muss sparen, um über die Runden zu kommen. Nicht von ungefähr hat daher auch schon kurz nach dem Wahlsieg der Linken Frankreichs Wirtschaftsminister Bruno Le Maire von einem Niedergang der französischen Wirtschaft gewarnt. Allerdings ist das ziemlich kurios, denn Macrons Regierung selbst hat diese gigantische Verschuldung zu einem erheblichen Maße verschuldet. Als Macron 2017 sein Amt als Präsident antrat, lag die Staatsverschuldung bei 95 % gemessen am BIP. Versprochen hat er damals, sie auf unter 90 % zu drücken. Realität ist das genaue Gegenteil: zu viele Zugeständnisse, zu wenig Durchsetzungsvermögen, wenig realistische Zielsetzungen. Frankreichs Verschuldung wächst sprunghaft, der Staat zahlt inzwischen allein für Zinsen dieser Schuldenlast jährlich etwa € 50 Mrd.! (Fast soviel wie für Bildung oder Verteidigung!) Ein Ende des negativen Trends ist derzeit nicht absehbar.

TRENDYone: Wer wird die nächste Regierung anführen?

Ingmar Niemann: Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Zum einen könnte ein Expertenkabinett, das fachlich über den Parteien stehen würde, das Land zu notwendigen Reformen zwingen. An die Spitze als Premierministerin könnte Macron Frau Lagarde setzen, immerhin eine Konservative, die als Chefin der Europäischen Notenbank einen ruhigen, unaufgeregten Job macht und gleichzeitig ihm die Unterstützung der konservativen Abgeordneten sichern könnte. Möglicherweise auch die einzige denkbare Präsidentschaftskandidatin, die Marine Le Pen in 2027 bei der Wahl ins Präsidentenamt, aufhalten kann.
Zum anderen könnte aber auch ein Kandidat der Sozialistischen Partei zum Zuge kommen. Diese Partei ist ein Teil des Parteienbündnisses der NFP, allerdings nicht so radikal wie Jean-Luc Mélenchon, und daher auch für den Präsidenten akzeptabel. Nicht zu vergessen ist dabei, dass Macron selbst einst Mitglied der Sozialistischen Partei und Wirtschaftsminister in der sozialistischen Regierung von Präsident Hollande war. Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen hat er sich dann von seiner eigenen gescheiterten Wirtschaftspolitik getrennt und im August 2016 die Regierung verlassen, um mit einer eigenen, neu gegründeten „Bewegung“, „En Marche“, als Präsidentschaftsbewerber anzutreten. Was ihm bekanntlich erfolgreich gelang. Die Nähe zu den Sozialisten ist also vorhanden, insbesondere wenn es ihm auf diesem Wege gelingen sollte, das Linksbündnis zu spalten, denn viele dort sind mit Jean-Luc Mélenchon radikalen Positionen nicht zufrieden.

TRENDYone: Warum konnte der Präsident mit seiner öffentlichen Präsenz nicht mehr für seine politische Bewegung erreichen? Üblich ist doch in Frankreich, dass die Wähler dem Präsidenten eine eigene Mehrheit im Parlament zubilligen.

Ingmar Niemann: Macron hat mit der Art und Weise, wie er Politik macht, in den letzten Jahren einen großen Teil der Bevölkerung enttäuscht und gegen sich aufgebracht. Hier ist an die Gelbwesten zu erinnern, die extremen Maßnahmen in der Corona-Krise, die Rentenreform, die am Parlament vorbei per Regierungsdekret durchgedrückt wurde. Viele Menschen in Frankreich haben diese Vorgehensweise als respektlos und undemokratisch empfunden und schon 2022 Macron mehrheitlich nur deshalb gewählt, um Schlimmeres zu verhindern. Es war keine Wahl für Macron, sondern gegen Le Pen!

TRENDYone: Was bedeutet dies für Deutschland und Europa?

Ingmar Niemann: Ein Präsident ohne Mehrheit, ein Parlament ohne Führung, keine guten Voraussetzungen für das außenpolitische Umfeld! Ich gehe davon aus, dass Frankreich in den nächsten 2 ½ Jahren als Führungsmacht in Europa ausfällt. Macron ist faktisch eine Lame Duck, eine lahme Ente. Umsetzbare Ideen, die Europa dringend bräuchte, sind ohne Mehrheit im eigenen Parlament unglaubwürdig. Leider kann auch Deutschland diese Führungsposition aus vielfältigen Gründen nicht übernehmen oder ausfüllen (Personal, Wirtschaft, Geschichte). Wir steuern auf Jahre des Stillstands in den Beziehungen hin, mit wenig Hoffnung auf die Zeit nach Macron.
In der französischen Nationalversammlung gibt es nun eine Mehrheit gegen Deutschland und daher dürften sich die Beziehungen kaum verbessern. Macron muss seinen Fokus auf die Innen- und Wirtschaftspolitik legen, für die deutsch-französischen Beziehungen wird da wenig Spielraum sein.